Karoviertel: Von der lutherischen Gnadenkirche zur orthodoxen Johannes von Kronstadt Kirche

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Ursprünglich wurde die Gnadenkirche 1906 als evangelisch-lutherische Filialkirche der St.-Pauli-Gemeinde erbaut, weil die alte Kirche am Millerntor dem rasanten Wachstum rund um Schlachthof und Karolinenviertel nicht mehr gewachsen war. Architekt Fernando Lorenzen, bekannt für sein stark vom Wiesbadener Programm inspiriertes Arbeiten, setzte auf einen achteckigen Zentralbau mit neoromanischen Anklängen an rheinisch-staufische Formen. Schon damals sorgte der wuchtige Oktogon-Turm mit seinen kapellenartigen Anbauten und Querschiffen für Stirnrunzeln bei Kritikern, die seine Entwürfe für „überholt“ und untypisch für Hamburg hielten. Innen öffnet sich der Raum elliptisch entlang einer Nord-Süd-Achse, und Paul Rothers Orgel thront direkt über Kanzel und Altar, sodass Predigt und Musik buchstäblich Hand in Hand gehen.

Am 1. Dezember 1907 wurde das Kirchengebäude feierlich der „Gnade Gottes“ geweiht – ein bewusster Bezug auf die nahegelegenen Gerichtsgebäude und das Holstenglacis-Gefängnis. In den Anfangsjahren prägten Pastoren wie Johannes Walter Kärner und Hermann Theodor Strasosky das Gemeindeleben. Leider zerstörten die Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg Fenster, Dach und große Teile des Schiffs; nach ersten Notgottesdiensten ab 1947 konnte 1957 die Orgel durch die Firma Walcker restauriert werden. Doch die Veränderung im Viertel und die isolierte Lage führten zu sinkenden Besucherzahlen, und das Gebäude wurde immer häufiger als Veranstaltungsort für Ausstellungen und Konzerte genutzt – die „Kunstkirche“ war geboren.

Im Jahr 2004 ging die Kirche in die Obhut der Russisch-orthodoxen Gemeinde des Moskauer Patriarchats über, die sich bereits 2001 gegründet hatte und inzwischen rund 2.000 unmittelbare Mitglieder zählt. Am 30. Mai 2007 wurde die Kirche des Heiligen Johannes von Kronstadt nach orthodoxer Tradition geweiht und innen komplett für den byzantinischen Ritus umgebaut: Die Bänke wanderten zu den Wänden, der alte Sandsteinaltar kehrte nach St. Pauli zurück und die evangelische Orgel wurde entfernt. Aus der Trennwand zur Sakristei entstand die neue Ikonostase mit außergewöhnlichen Steinmalerei-Ikonen – ein in Europa kaum noch genutztes Verfahren. Heute ergänzt eine Ikonostase Heilige wie Prokop von Ustjug, Elisabeth und Ansgar, die zum deutschen und russischen Kulturerbe gehören.

Äußerlich blieb der neoromanische Bau weitgehend erhalten, abgesehen von den orthodoxen Kreuzen auf den Türmen und den fünf Zwiebeldachtürmchen, die dem Heim des Heiligen Johannes von Kronstadt seinen typisch russisch-orthodoxen Touch geben. Ein altes Gemeindehaus von 1881, nur wenige Meter entfernt, musste 2012 wegen Holzwurmbefall abgerissen werden und wurde durch einen Neubau von Jörg Springer ersetzt. In Bahrenfeld schließlich betreibt die Gemeinde seit 2014 eine Filialkirche mit Friedhofskapelle für Begräbnisse und Musikveranstaltungen.

Wenn man sich hier umschaut, spürt man die über hundertjährige Geschichte zwischen lutherischem Aufbruch, Kriegszerstörung und orthodoxer Wiedergeburt. Und noch ein kleiner Architekturfokus zum Schluss: Würde man die heutigen Zeltdächer des Oktogon-Turms durch klassisch gewölbte Kuppeln ersetzen, erinnerte das Bild unweigerlich an die berühmte russisch-orthodoxe Kirche in Kronstadt – so eng hängt Form und Funktion dieser Gemeinde hier zusammen.

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