Mercado Ottensen: Zwischen heiligen Ruhestätten und Shopping-Bags

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Bevor hier Shopping-Bags raschelten, befand sich auf diesem Stück Land von 1663 bis 1934 ein jüdischer Friedhof. Den letzten Abschied hier feierten Menschen im Jahr 1934. Doch dann kam die dunkle Zeit der Nationalsozialisten: Bereits in den späten 1930er Jahren wurde der Friedhof systematisch entweiht. Grabsteine wurden entfernt – manche sogar weiterverkauft oder in den Straßenbau eingebaut – und das Areal in Teilen als Lagerplatz für Nazi-Propaganda-Material genutzt. In der Novemberpogromnacht 1938 verschärfte sich die Gewalt: Zeugnisse des jüdischen Lebens wurden mutwillig zerstört, Tore und Mauern demoliert. Danach blieb das Gelände zunächst ungenutzt, bis im Krieg schließlich Luftschutzbunker errichtet wurden – neue Zweckbauten auf heiligem Boden. Kaum vorstellbar, wie hier einst Stille herrschte und nun Panzerbeton dominierte. Nach dem Krieg holte man sich das Gelände zurück – erst durch die Jewish Trust Corporation, dann durch die Jüdische Gemeinde und schließlich 1952/53 durch den Kaufhaus-Giganten Hertie. Ein schmuckes Kaufhaus entstand, aber die Zeit blieb nicht stehen. Fast 35 Jahre später – 1988 – wechselte das Gelände erneut den Besitzer: Die Baufirma Büll & Liedke hatte jetzt das Ruder. Unter dem Arbeitstitel ‚Hertie-Quarree‘ plante man ein modernes Einkaufszentrum. Es folgten positive Vorbescheide Ende 1990 und eine Baugenehmigung Mitte 1991. Und hier beginnt der – man kann fast sagen – Krimi der Hamburger Baugeschichte: Sommer 1991. Abrissbagger, Bühne frei… und plötzlich stoßen die Arbeiter auf Grabstein-Fragmente und menschliche Knochen. Panik? Empörung? Klar doch!“ Orthodoxe jüdische Gemeinden – nicht nur aus Deutschland, sondern weltweit – zeigten sich entsetzt. Athra Kadischa, der Zentralrat der Juden und sogar US-Kongressabgeordnete mischten sich ein. Baustopp, Polizei-Begleitung, diplomatische Noten: Das war kein normales Drama, sondern ein internationales Politikum! Damit der Streit nicht ewig weiterkocht, entschied schließlich Jerusalems Oberrabbiner Itzchak Kolitz: Wir lassen das Erdreich an den heiklen Stellen einfach unangetastet – und bauen eine dicke Betonplatte drüber. Tiefgarage? Vergesst’s! Dafür gibt’s jetzt Parkplätze auf dem Dach. Ein absoluter Pragmatismus-Move: Baurecht trifft Traditionsschutz. Und ja, man kann drüber streiten, aber so wurde der Spagat geschafft und der Boden der Tatsachen – wortwörtlich – geschützt.

  1. Oktober 1995: Tusch! Die Eröffnung des neuen „Mercado“. Fünf Ebenen, 23.000 m² Fläche, knapp 40 Shops, Restaurants und eine 900 m² große Markthalle – quasi Oase für hungrige und modebewusste Hamburger. Drei Jahre später zog sogar eine öffentliche Bücherhalle ein. Lesen und Shoppen unter einem Dach – nicht schlecht, oder? Zwischenzeitlich hat sich viel getan: 2020 investierten Union Investment und Betreiber Sonae Sierra rund drei Millionen Euro in neue Sitzgelegenheiten, eine schicke Info-Theke und mehr Fahrradstellplätze. Und spätestens 2024 wird’s künstlerisch: Eine großflächige Comic-Zeichnung im Eingangsbereich erinnert an die kontroversen Baukonflikte – eine Mahnung und Zeitzeugnis zugleich. Das war unsere kleine Zeitreise durch die bewegte Geschichte dieses Ortes. Vom stillen Friedhof über die Entweihung in der NS-Zeit und politisch aufgeladene Drahtseilakte bis hin zum modernen Einkaufsparadies. Jetzt seid ihr wieder in der Gegenwart – mit einem Einkaufsjudeo-historischen Bonuswissen im Gepäck! Habt Spaß beim Schlendern, Shoppen und Staunen. Und wenn ihr euren Rundgang beendet, haltet unbedingt Ausschau nach der Gedenktafel am Haupteingang: Sie erinnert als stiller Mahnstein an die einst hier bestatteten Menschen und mahnt uns, diese Geschichte nicht zu vergessen. Übrigens findet ihr im Inneren des Mercado weitere Gedenktafeln: Kleine, dezente Plaketten erinnern an die alten Grabstätten und laden zum Innehalten ein.

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